Multum adhuc restat operis, multumque restabit:

nec ulli nato post mille saecula praecludetur

occasio aliquid adhuc adjiciendi. Multum egerunt,

qui ante nos fuerunt, sed non peregerunt:

suspiciendi tamen sunt, et ritu Deorum colendi.

Senec. Epist. 64.

Vo r r e d e.

Daß unter allen Wissenschaften die Mathematik dem Ideale der Vollkommenheit noch am nächsten stehe, muß jeder unbefangene Beurteiler gestehen. In dem gemeinsten Lehrbuche der Mathematik herrscht wirklich mehr Bestimmtheit und Klarheit der Begriffe, mehr Sicherheit und Überzeugung in den Urteilen, als noch zur Stunde in dem vollendetsten Lehrbuche der Metaphysik angetroffen wird. Aber so unleugbar das ist, so sollte andererseits doch auch der Mathematiker nie vergessen, es gelte auch von seiner Wissenschaft, was dort geschrieben steht von allem menschlichen Wissen, “daß es nur Stückwerk sei". Jedoch die größten Kenner dieser Wissenschaft haben in der Tat von jeher eingestanden, nicht nur, daß das Gebäude ihrer Wissenschaft noch kein ganz ausgebautes und in sich selbst beschlossenes Gebäude sei; sondern auch, daß selbst die ersten Grundmauern dieses im übrigen so prachtvollen Gebäudes noch nicht ganz fest und regelmäßig seien; oder, um ohne Bild zu reden, daß sich selbst in den ersten Elementarlehren aller mathematischen Disziplinen noch manche Lücken und Unvollkommenheiten finden.

Um dieses Urteil hier nur mit einigen Beweisen zu belegen; haben es nicht die größten Mathematiker neuerer Zeit erkannt, daß in der Arithmetik die Lehre von den entgegengesetzten Größen, samt allem dem, was von ihr abhängt, noch nicht im reinen sei? Findet man nicht beinahe in jedem Lehrbuche der Arithmetik eine veränderte Darstellung dieser Lehre? - Noch schwankender, und zum Teile mit wechselseitigen Widersprüchen erfüllt, ist das Kapitel von den irrationalen und imaginären Größen. Von den Mängeln, welche die höhere Algebra, die Differential- und Integralrechnung hat, will ich hier nichts erwähnen; es ist bekannt, daß man nicht einmal über den Begriff eines Differentials bis jetzt einverstanden ist; und erst am Schlusse des vorigen Jahres hat die Fürstlich-Jablonovskische Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig die Auseinandersetzung der verschiedenen Theorien des Infinitesimalkalkuls und die Entscheidung, welche derselben den Vorzug verdiene, zur Preisfrage aufgegeben.

Nichtsdestoweniger ist die Arithmetik, meinem Bedünken nach, noch der bei weitem vollkommnere Teil der mathematischen Disziplinen; viel wichtigere und schwerer zu behebende Mängel aber hat die Geometrie. Hier mangelt es zur Stunde noch an einer bestimmten Erklärung der wichtigen Begriffe: Linie, Fläche, Körper. Nicht einmal über die Erklärung der geraden Linie (welche vielleicht vor dem Begriff einer Linie überhaupt gegeben werden könnte) hat man sich noch vereinigen können. Vor einigen Jahren hat uns Hr. Grashof (Theses sphaereologicae, quae ex sphaerae notione veram rectae lineae sistunt definitionem, omnisque geometriae firmum jaciunt firmamentum. Berol. 1806.) mit einer ganz neuen Erklärung beschenkt, die jedoch schwerlich befriedigen dürfte. Der auffallendste Mangel aber, mit dessen Verbesserung man sich, so viel wir namentlich wissen, seit Proklus Zeiten schon, höchst wahrscheinlicherweise aber schon lange vor Euklid beschäftigt hat, betrifft die Theorie der Parallelen. Allein so viele Versuche man auch bisher gemacht bat, so ist doch keiner so gelungen, daß er sich eines allgemeinen Beifalles zu erfreuen hätte.

In der Mechanik sind die Begriffe von Geschwindigkeit und Kraft beinahe ein eben solcher Stein des Anstoßes wie der Begriff der geraden Linie in der Geometrie. Auch hat man es sich längst eingestanden, daß die zwei wichtigsen Lehrsätze dieser Wissenschaft, nämlich der von dem Kräften-Parallelogramme, und jener vom Hebel noch nicht mit Schärfe erwiesen seien. Aus diesem Grunde machte die königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Kopenhagen noch im Jahre 1807 eine begründetere Theorie des Kräften-Parallelogrammes zu einer Preisaufgabe. Da ich die Abhandlung des Herrn Prof. de Mello, welche den Preis erhalten hat, noch nicht zu Gesicht bekommen habe, so kann ich nicht versichern, ob der Versuch, welchen ich in diesen Blättern zu geben gedenke, etwas Neues sein werde. Was die Lehre vom Hebel betrifft, so meint man freilich, der Kästnerische Beweis hebe hier alle Schwierigkeiten; aber ich glaube, noch in der gegenwärtigen Abhandlung das Gegenteil zu zeigen.

An allen Teilen der Mathematik endlich, vornehmlich aber an der Geometrie, hat man den Mangel der Ordnung seit Ramus Zeiten schon gerügt. Und in der Tat, von was für ungleichartigen Gegenständen handeln nicht die einzelnen Lehrsätze im Euklides? Erstlich von Dreiecken, doch so, daß hier schon Kreise, die in gewissen Punkten sich schneiden, mitgenommen werden; darauf von Winkeln, von Neben- und Scheitelwinkeln; dann von der Gleichheit der Dreiecke; viel später erst von ihrer ähnlichkeit, welche jedoch durch einen ungebeuern Umweg erst aus Betrachtung der Parallellinien, sogar des Flächeninhaltes der Dreiecke, usw. hergeleitet wird! - Bedenkt man aber, ταυθ οπως γεγραπται τοις χαιροις χαι ταις αχριβειαις; erwäget man, wie jeder folgende Satz bei dem Beweise, womit Euklides ihn versteht, der ihm vorher gehenden ganz notwendig bedarf, so sollte man wohl auf den Gedanken geraten, der Grund jener Unordnung müsse tiefer liegen, die ganze Beweisart, die Euklides braucht, müsse nicht richtig sein.

Die gegenwärtigen Blätter haben nun den Zweck, einige Beiträge zur Behebung nicht nur der jetzt gerügten, sondern auch einiger anderer Mängel der Mathematik zu liefern, deren Vorhandensein erst in der Folge bewiesen werden kann. Billig wird man mich fragen, wie ich hier berufen sei? Ich will ganz aufrichtig, was ich in dieser Rücksicht für oder wider mich zu sagen weiß, hier anführen.

Seit etwa fünfzehn Jahren denn länger ist es nicht, daß ich die Mathematik kenne - ist diese Wissenschaft immer eines von meinen Lieblingsstudien gewesen; doch vornehmlich nur nach ihrem spekulativen Teile, als Zweig der Philosophie und Übungsmittel im richtigen Denken. Gleich bei der ersten Bekanntwerdung mit derselben, welche nach Kästners vortrefflichem Lehrbuche geschah, stießen mir ein und der andere Mangel auf, mit dessen Behebung ich mich, wahrlich aus keiner Eitelkeit, sondern aus einem inneren Interesse, das ich an solchen Spekulationen fand, in meinen Nebenstunden beschäftigte. Bei längerem Nachdenken vermehrte sich noch die Anzahl der Mängel, die ich entdeckt zu haben glaubte. Zwar gelang es mir allmählich, einen und den anderen derselben zu heben; allein ich traute der Auflösung aus Furcht, mich selbst zu täuschen, nicht gleich, weil ich die Wahrheit mehr, als das Vergnügen einer eingebildeten Erfindung liebte. Erst wenn ich eine Meinung von allen Seiten geprüft und immer bestätigt gefunden halte, faßte ich mehr Zutrauen zu ihr. Mittlerweile, soviel es mir meine übrigen Studien und seit fünf Jahren mein Lehramt nebst anderen Umständen erlaubten, sah ich auch jene Bücher nach, die in der Absicht, das wissenschaftliche System der Mathematik zu vervollkommnen geschrieben worden sind. Hier fand ich einiges von dem, worauf ich für mich durch eigenes Nachdenken geleitet worden war, schon wirklich vorgetragen: manches dagegen habe ich noch nirgends angetroffen. Allein, da ich mir keine vollständige Kenntnis der mathematischen Literatur verschaffen konnte, so wäre es mir möglich, daß auch noch einiges von dem, was ich für neu halte, irgendwo schon gesagt worden ist: von allem wird dies doch zuverlässig nicht der Fall sein.

Im übrigen ist es mir gar nicht unbekannt, daß es ein allerdings gewagtes Unternehmen sei, an den ersten Gründen der Mathematik einiges ändern und bessern zu wollen ,,Alle, die den Euklides meistern wollten," sagt Kästner irgendwo mit historischer Wahrheit, “sind bisher selbst zuschanden geworden." Steht nicht auch mir ein ähnliches Geschick bevor, zumal da Vorurteil und Eigensinn selbst dort, wo ich die Wahrheit auf meiner Seite haben sollte, sich mir entgegen stemmen werden? Allein aus dem Mißlingen mehrerer Versuche folgt ja doch immer nicht, daß alle übrigen mißlingen müssen; auch ist der Weg, den ich hier einschlage, von den bisher versuchten Wegen sehr verschieden. Ich hielt es daher für meine Pflicht, ihn der Beurteilung der Kenner vorzulegen.

Zwar gab ich schon im Jahre 1804 eine kleine Probe meiner Veränderungen unter dem Titel: Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie, heraus. Allein der geringe Umfang des Schriftchens, sein nichts sagender Titel, der allzu lakonische Stil, die Namenlosigkeit des Verfassers und manche andere Umstände waren wohl nicht geeignet, demselben Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es ist daher auch weiter nichts erfolgt, als daß es in einigen gelehrten Zeitungen (z. B. in der Leipziger, Jahrg. 180 Jul. ()5. St.; in der Jen. 1806 Febr. Nr. 2().) angezeigt wurde, ohne daß man die darin vorgetragene Theorie der Parallelen eines offenbaren Fehlers geziehen hätte. Nun versteht es sich aber von selbst, daß ich seit dieser Zeit in meinen Begriffen fortgerückt bin und daher manches jetzt besser und richtiger darzustellen glaube, als es wohl damals geschehen ist. In diesen Beiträgen also, die in so kleinen Lieferungen, wie diese gegenwärtige, in unbestimmten Zeiträumen erscheinen sollen, und deren Anzahl ich eben so wenig vorher bestimmen kann, gedenke ich die einzelnen apriorischen Disziplinen der Mathematik nach jener Ordnung, wie sie in der gegenwärtigen 1. Abt. § 20. aufgestellt sind, teilweise durch zu gehen. Die meisten und wichtigsten Veränderungen werden die Geometrie betreffen, zu deren Darstellung ich auch schon darum so schnell als möglich eilen werde, um durch die Beurteilung der Kenner in meinen Ansichten entweder bestärkt, oder über meine Verirrung aufgeklärt, nicht noch mehr Zeit auf einem Abwege zu verlieren.