Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie

Einleitende Vorrede

Es ist nicht unbekannt, daß die Mathematik nebst dem ausgebreiteten Nutzen, den ihre Anwendung auf das praktische Leben gewährt, auch noch einen zweyten kaum geringern, obgleich nicht so in die Sinne fallenden Nutzen durch Übung und Schärfung des Verstandes, durch die wohlthätige Beförderung einer gründlichen Denkart liefern könne; einen Nutzen, welchen der Staat vornehmlich beabsichtigt, wenn er das Studium dieser Wissenschaft von jedem Akademiker verlangt. Wie ich nun den kühnen Wunsch nicht unterdrücken konnte, zu dem steten Fortschreiten dieser so vortrefflichen Wissenschaft auch etwas beyzutragen: so habe ich - nach meinen subjectiven Neigungen - bisher größern Theiles nur die Vervollkommnung der speculativen Mathematik, d. i. der Mathematik, in wiefern sie den zweyterwähnten Nutzen leisten soll, mir in meinen Nebenstunden zum Gegenstande der Betrachtung vorgesetzt.

Es ist nöthig, hier ein Paar der Regeln zu erwähnen, die mir bey diesem Geschäfte unter andern nach meiner Meinung oblagen.

Erstlich stellte ich mir die Regel auf, daß ich mich durch keine Evidenz eines Satzes von der Verbindlichkeit los zähle, noch einen Beweis für denselben aufzusuchen, - so lange, bis ich deutlich einsähe, daß und warum sich durchaus kein Beweis fernerhin fordern lasse. Wenn es wahr ist, daß überall deutliche, richtige, in der vollkommensten Ordnung verbundne Vorstellungen leichter zu fassen sind, als hie und da noch verworrne und unrichtige: so muß man das Bestreben, alle Wahrheiten der Mathematik bis auf ihre letzten Gründe zu entwickeln, und dadurch allen Begriffen dieser Wissenschaft die möglichste Deutlichkeit, Berichtigung und Ordnung zu verschaffen, für ein Bestreben ansehn, das nebst der Gründlichkeit auch noch die Leichtigkeit des Unterrichts befördern wird. Und wenn es ferner wahr ist, daß aus den ersten Vorstellungen, wenn sie deutlich und richtig aufgefaßt sind, auch viel mehreres geschlossen werden kann, als wenn sie noch verworren da liegen: so muß diesem Bestreben auch zum dritten ein möglicher Nutzen zur Erweiterung der Wissenschaft zugestanden werden. Davon gibt die ganze Mathematik die klärsten Beyspiele. Was konnte einst überflüssiger geschienen haben, als wenn Thales (oder wer sonst der Erfinder der ersten geometrischen Beweise war) sich viele Mühe gab zu beweisen, daß die Winkel an der Grundlinie des gleichschenklichten Dreyecks gleich seyen, da dieß doch dem gemeinsten Menschenverstande offenbar ist; aber jener zweifelte gar nicht, daß es sich so verhalte: sondern nur wollte er wissen, warum der Verstand diesen nothwendigen Ausspruch thue? Und siehe, indem er so die Elemente eines verdekten Schlusses hervorzog und zum deutlichen Bewußtseyn brachte: so erhielt er dadurch den Schlüssel auch zu neuen und dem gemeinen Menschenverstande nicht mehr einleuchtenden Wahrheiten. Die Anwendung ist leicht.

Zweytens muß ich anzeigen, daß ich mich auch bey einem völlig strengen Beweise noch nicht befriedigen zu dürfen glaubte, wenn derselbe nicht aus den Begriffen, welche die zu beweisende thesis enthält, selbst hergeleitet ist, sondern sich vielmehr irgendeines zufälligen, fremdartigen Mittelbegriffes bedient, welches allemal eine fehlerhafte μεταβασισ εισ αλλο γενοσ ist. Hieher zählte ich in der Geometrie den Fehler, daß man alle Sätze von Winkeln und Verhältnissen gerader Linien gegeneinander (in Dreyecken) mittelst Betrachtungen der Ebene erweiset, wozu in den thesibus gar keine Veranlassung enthalten ist. Hieher zähle ich auch den Begriff der Bewegung, den manche Mathematiker zu Beweisen reingeometrischer Wahrheiten angewandt haben. Zu diesen gehört selbst Kästner (z. B. Geometrie II. Thl., Grundsatz von der Ebne). - Nikolaus Mercator, der eine besonders systematische Geometrie einzuleiten versuchte, nahm darein den Begriff der Bewegung als wesentlich auf. Endlich behauptete auch Kant, da? die Bewegung als Beschreibung eines Raums zur Geometrie gehöre. Seine Distinction (Kritik der reinen Vernunft, S. 155) hebt meine Zweifel gegen die Nothwendigkeit, ja nur Zulässigkeit dieses Begriffes in der reinen Geometrie auf keine Weise - aus folgenden Gründen:

Erstlich kann ich wenigstens nicht ersehen, wie die Vorstellung der Bewegung möglich seyn soll ohne die Vorstellung eines (obgleich nur eingebildeten) beweglichen Objects im Raume, das man vom Raume selbst noch unterscheidet; indem man, um die Vorstellung der Bewegung zu erhalten, nicht etwa nur unendlich viele gleiche Räume nebeneinander denken, sondern ein und dasselbe Ding successiv in verschiedenen Räumen als seinen Orten annehmen muß. Rechnet nun selbst Kant den Begriff eines Objects unter die empirischen Begriffe; oder gestehet man mir doch, daß der Begriff eines vom Raume noch unterschiedenen Dinges in einer Wissenschaft, die bloß vom Raume selbst zu handeln hat, fremdartig sey: so darf man auch den Begriff der Bewegung in der Geometrie nicht dulden.

Anderns setzt, so viel ich meine, die Lehre der Bewegung die vom Raume schon voraus, d. h. wenn man die Möglichkeit einer gewissen Bewegung, die man zum Behufe eines geometrischen Lehrsatzes aufgenommen, auch beweisen sollte; so würde man zu eben diesem geometrischen Satze seine Zuflucht nehmen müssen. Ein Beyspiel giebt der oben angeführte Grundsatz von der Ebene (bey Kästner). Weil nun die Annahme jeder Bewegung zum Beweise ihrer Möglichkeit (und den ist man doch schuldig) eigne Lehrsätze vom Raume voraussetzt: so mu? es eine Wissenschaft von diesem geben, welche allen Begriffen von jener vorangeht. Dieses heißt und ist nun die reine Geometrie.

Für meine Meinung habe ich auch den Hrn. Hofpr. Schultz, der in seinen geschätzten Anfangsgründen der reinen Mathesis, Königsberg 179O keine Vorstellung der Bewegung aufgenommen.

In gegenwärtigen Blättern liefre ich - kein oeuvre achevé, sondern nur - eine kleine Probe von meinen bisherigen Untersuchungen, welche Probe doch nur die allerersten Sätze der reinen Geometrie betrifft.

Wird diese nicht ganz ungünstig aufgenommen, so dürfte ihr eine zweyte über die ersten Gründe der Mechanik nächstens nachfolgen. Mich verlanget besonders das Urtheil zu erfahren, welches gegenwärtige geometrische Gedanken von Sachkündigen verdienen mögen: das ist der Grund, da? ich bei einer nähern Veranlassung, etwas dem Druck zu übergeben, gerade diese gewiß schwierige Materie und nicht lieber einen andern Gegenstand (wie wohl möglich gewesen wäre) wählte. Nun noch etwas über diesen.

Da es offenbar ist, daß man zu einer richtigen Theorie der geraden Linie, ich meine, zu den Beweisen der Sätze: von der Möglichkeit einer geraden Linie, ihrer Bestimmbarkeit durch 2 Punkte, unendlicher Verlängbarkeit, und einiger anderer - keine Betrachtungen von Dreyecken oder Ebenen gebrauchen kann; vielmehr umgekehrt erst diese Lehren sich auf jene gründen müssen: so lege ich in der ersten Abtheilung einen Versuch dar, die ersten Sätze der Lehre von den Dreyecken und den Parallelen bloß mit der Voraussetzung der Theorie von der geraden Linie zu erweisen. Dieß ist bisher, so viel mir bewußt ist, nicht geschehen; weil man allenthalben auch noch verschiedene Grundsätze von der Ebene mit vorausgesetzt hat; Grundsätze, die, wenn man sie beweisen sollte, eben jener Lehre von den Dreyecken bedürfen würden. Also hat man die ersten Lehrsätze der Geometrie in meinen Augen nur per petitionem principii erwiesen; und wenn auch dieß nicht wäre, doch noch eine (nach dem schon erwähnten) durchaus nicht zu duldende probationem per aliena et remota begangen.

Die Lehre von der geraden Linie selbst halte ich, obgleich für erweisbar - unabhängig von der Lehre von Dreyecken oder Ebenen -, für erwiesen doch noch so wenig: daß ich sie vielmehr bis zur Stunde für die schwierigste Materie der Geometrie ansehe, und von meinen eigenen Betrachtungen darüber jene, die mir noch die gründlichsten geschienen, obgleich selbst diese noch nicht den Grund erreichen, auszugsweise in der zweyten Abtheilung vorlegen wollte; um nur zu erfahren, ob ich auch auf dem eingeschlagenen Pfade fortgehen solle.